Coworking im ländlichen Raum
Am 19.11.2020 stellte die Bertelsmann Stiftung und die Genossenschaft Coworkland die Ergebnisse der Studie "Coworking im ländlichen Raum" auf einer Online-Konferenz vor. Dr. Andreas Zimmer, TMB Tourismus-Marketing Brandenburg GmbH war dabei.
Nachdem 2019 das Berlin-Institut eine vielbeachtete Studie zum digitalen Arbeiten im ländlichen Raum herausgebracht haben, legt 2020 die Bertelsmann-Stiftung nach.
Die Studie räumt erfreulicherweise mit ein paar Vorurteilen auf. Das erste ist: Coworking ist ein städtisches Phänomen. Dass dem nicht so ist, wissen wir in der Haupstadtregion schon seit einigen Jahren, aber es hat sich bundesweit rumgesprochen, weil die Anzahl der Coworking-Orte stark zugenommen hat.
Das zweite Vorurteil: Coworking, das ist doch nur was für junge Menschen. Auch hier stellen die Studienmacher fest: fast 50% der Nutzer:innen sind über 40 Jahre alt. Übrigens, und damit gleich zum dritten Vorurteil: gut 35% der Nutzer:innen sind Angestellte, also um co zu worken, muss man nicht selbständig sein, sondern es kommt auf die Arbeitsumstände und nicht zuletzt auch auf die Unternehmenskultur an.
Schließlich: Coworking, das sind doch diese Programmierer mit ihren Nullen und Einsen. Ja, die gibt es laut der Studie natürlich auch. Aber vor allem eine Vielzahl von Interessen- und Berufslagen.
Das sind u.a.
- Digitale Nomad:innen: Rückkehrerinnen bzw. digitales Nomadentum, die globale Trends in die Provinz bringen.
- Rurbane Siedler:innen: Mit den sich änderten Arbeitsrealitäten besteht ein Trend zum Umzug in den ländlichen Raum. Nicht nur bei uns gibt es einen Zuzug von Menschen, die ihre Ideen, Wünsche und Gewohnheiten in die ländlichen Räume tragen. Von diesen werden teilweise eigene Wohn- und Arbeitsprojekte gegründet oder sie sind regelmäßige Nutzer:innen dieser Räume.
- Hybride Gründer:innen: Ländliche Intrapreneure, die einen CWS als Ort der Vernetzung außerhalb des alltäglichen Arbeitsumfelds nutzen, oft neben der Anstellung gründen und Lust auf digitale Geschäftsmodelle haben.
Hinzu kommen Ortlose Teams, Berater:innen und Coaches, Wissenschaftler:innen, Kreative, Manager:innen und Interessierte sowie, für mich besonders spannend, Handwerker:innen, die immerhin 2% der Nutzungen ausmachen. Für die Handwerker ist ein Coworking Space vor allem die Möglichkeit, sich zu vernetzen, kreativ und innovativ zu arbeiten. Aber auch Pädagog:innen nutzen diese Orte gerne für konzentrierte Korrekturarbeiten und Unterrichtsvorbereitungen. Und ITler sind auch dabei. Ingesamt also 12 Gruppen, für die die Studie verschiedene Beispiele auflistet.
Auch interessant - und da wird es touristisch, weil temporär und nicht normales Arbeits- und Lebensumfeld - die Typologie, die die Studie aufmacht. Ingesamt sind es sieben Unterarten, die die Autoren gefunden haben:
Typ 1: Coworking klassisch
- Professioneller Betrieb, wirtschaftliche Ausrichtung
- Coworking als Geschäftsmodell
- Vorrangig in Klein- und Mittelstädten
- Häufig von lokalen Unternehmer:innen initiiert
Typ 2: Pendlerhafen
- Lage an Verkehrsknotenpunkten, zentrale Orte
- Hohe Anforderungen an Sicherheit, Ausstattung, Flexibilität und Serviceangebote
- Professionelle Coworking Betreiber:innen
- Hauptzielgruppe sind Unternehmen, die ihre Mitarbeiter:innen dorthin schicken können
- Vorsichtige „Ringbildung“ zu beobachten, d.h. mehrere Pendlerhäfen siedeln sich um Großstädte an (ggf. auch neue Geschäftsmodelle von Buchungsplattformen)
TYP 3: Bottom Hub
- Privatinitiative und Coworking-Pioniere mit Eigenbedarf an sozialem Arbeitsumfeld
- Oft ehrenamtliches Community Engagement
- Hohe intrinische Motivation, weniger wirtschaftliche Getriebenheit
- Betreiber:innen wollen oft Angebote schaffen für die Gemeinde oder die Region
- Teilweise entstehen daraus auch größere Initativen
- Ideal für kommunale Kooperationen
Typ 4: Retreat
- Mischung aus Coworking Space, Übernachtungsmöglichkeiten/Hotel und inspiriender Gemeinschaft
- Eigene Zielgruppe: Arbeitstourismus und Unternehmenskunden
- Quersubventionierter Coworking-Space durch Mischformen
- Öffnet Raum für regionale Nutzer:innen und Kooperationen
- Funktioniert naturnah und in abgelegenen Regionen, wo sich eine Mononutzung nicht lohnt
Typ 5: Workation
- Arbeit (Work) und Freizeit (Vacation)
- An touristischen Hotspots, z.B. Strand, Berge
- Übernachtungsmöglichkeiten nicht zwingend, weil andere Anbieter zur Verfügung stehen
- Hohe Fluktuation und Ansprüche der Zielgruppe
- Vielseitige Erscheinungen, von Pop-Up bis festen Standorten
- Noch nicht so viel in Deutschland verbreitet, da oftmals Flächenkonkurrenz zu anderen Nutzungsformen (Hotel u.ä.)
Der Unterschied zwischen Typ 4 „Retreat“ und Typ 5 „Workation“ ist übrigens ganz einfach. Retreats sind oftmals sehr schön gelegen, mitten in der Natur, etwas abseits. Workation findet man in touristischen Hotspots, z.B. auch als Ergänzung zur Beherbergungsstruktur eines Ortes.
Typ 6: Neue Dorfmitte
- Korallenriff-Effekt: Basisinfrastruktur für weitere Angebote (Paketabholstation, Dorfladen, Kita, Bankfiliale etc.)
- Attraktives Leben in Kleinstädten und Dörfern, da auch tagsüber was los ist
- Verbesserung des lokalen Engagements, Nachfrage und Angebote
- Resiliente Geschäftsmodelle
Typ 7: Wohn- und Arbeitsprojekte
- Vermehrte Nachfrage nach Alternativen zum Einfamilienhaus
- Wohnprojekte und neue Quartiere haben Eigenbedarf
- Co-Living für junge Familien
- Coworking-Werte als Unterschied zur abgeschlossenen Kommune
Sicherlich kamen wir im Laufe der Veranstaltungen auch zu Fragen wie „Rechnet sich das alles überhaupt? Muss Co-Working auf dem Land wirtschaftlich sein?“ Und wie so oft wurde hier auf die starke intrinsische Motiviation vieler Betreiber:innen verwiesen, aber auch ein Appell an die Politik gerichtet, Coworking nicht nur als „Arbeitsort“, sondern gleichzeitig als Kristallisationspunkt für die nachhaltige Entwicklung von Räumen zu sehen, die einer anfänglichen öffentlichen, maßgeschneiderten Unterstützung bedürfen.
Als schließlich Ulrich Bähr, einer der maßgeblichen Köpfe der Studie und der deutschen Coworking-Szene nach guten Beispielen gefragt wurde, und da wurde ich schon etwas stolz, erwähnte er zwei: Wittenberge und Bad Belzig mit dem Coconat. Offenbar machen viele hier vieles richtig.
Eine spannende Studie zur richtigen Zeit. Denn, wie Ole Wintermann von der Bertelsmann-Stiftung betonte: „Durch Corona haben viele Menschen gelernt, an anderen Orten zu arbeiten.“ Mit Mut und guten Ideen können wir diese neue Kulturtechnik nutzen: für neue Orte, für die kommunale und Landesentwicklung, für und mit den Menschen in allen Räumen.
Weitere Informationen bei Zukunft der Arbeit sowie im Downloadbereich.
Übersicht über anmietbare Coworking Spaces in Brandenburg
Ein Arbeitsplatz inmitten von Wiesen, Wäldern und Seen. In Brandenburg finden Sie Kreativorte in Schlössern, Gutshäusern, alten Bahnhöfen oder Mühlen. Mittlerweile laden über 30 Coworking Spaces im Land zum produktiven Austausch ein.
Eine Übersicht über anmietbare Coworking Spaces in Brandenburg finden Sie auf Reiseland Brandenburg oder auf der Seite Kreativorte Brandenburg.