Barrierefreie Produkte entwickeln
Egal ob Orte, Regionen oder Betriebe, seien Sie sich sicher, niemand erwartet von Ihnen, dass Sie von heute auf morgen komplett barrierefrei werden. Ihr vorrangiges Ziel sollte daher zu diesem Zeitpunkt sein, barrierefreie Angebote zu entwickeln und anzubieten, und dabei immer die Zielgruppe im Fokus behalten.
Das Wichtigste ist, Ihr Angebot mit den Reisebedürfnissen Ihrer Gäste abzustimmen. Dazu gehört im Idealfall die gesamte barrierefrei funktionierende Servicekette. Behalten Sie dabei immer im Hinterkopf, dass sowohl Gäste mit Mobilitäts- und Sinneseinschränkungen als auch ältere Menschen und Familien ganz spezifische Bedürfnisse und somit auch unterschiedliche Ansprüche an die Servicekette (oder ‚Customer Journey‘) haben. Wenn möglich, fragen Sie Ihre Gäste einfach einmal, denn gemeinsam können Sie die besten Lösungen finden. Sie können so auch besser priorisieren, welche Anforderungen als Erstes umgesetzt werden sollten.
Produktentwicklung in fünf Schritten
Ein Produktentwicklungsprozess besteht aus mehreren Etappen, wir stellen Ihnen einen praktischen Ansatz bestehend aus fünf Schritten vor, der idealerweise im Rahmen eines oder mehrerer Produktentwicklungsworkshops erfolgen sollte.
TMB Tourismus-Marketing Brandenburg GmbH
5 Schritte kurz erklärt
Schritt 1: Klärung der Ausgangsposition
Beschreiben Sie Ihr Angebot bzw. Ihre Produktidee zunächst in einer kurzen Produktskizze. Zu klären ist, was der thematische
Schwerpunkt ist und ob sich das Produkt eher den Tagesausflügen oder mehrtägigen Aufenthalten zuordnen lässt. Die touristische Kernleistung sollte hier eingegrenzt werden. Zudem sollten folgende Fragen gleich zu Beginn beantwortet werden:
- Was ist das Besondere an dem Angebot bzw. der Produktidee?
- Wodurch unterscheidet es sich von anderen Angeboten?
- Werden die regionalen, lokalen und betrieblichen Stärken jeweils eingesetzt?
- Welche Bedürfnisse und Motivationen der Gäste werden mit dem Angebot erfüllt?
- Was könnte der Nutzen bzw. der Leistungsvorteil sein? Warum kaufen Gäste dieses Angebot? Warum sollten sie es erleben?
- Für welche Gäste mit Einschränkungen ist das Angebot zugänglich? Notieren Sie hier bereits grundlegende Anforderungen an die Barrierefreiheit.
- Welche Partner erbringen welche Leistungen?
- Wichtig ist auch, sich relativ früh auf ein gemeinsames Ziel für die Produktentwicklung zu verständigen: Was könnte am Ende wie in die Vermarktung gehen?
- Wie kann mein Angebot die „Marke Brandenburg“ und das Profil meines Reisegebietes unterstützen?
Schritt 2: Die Zielgruppe(n) beschreiben
Gäste nehmen touristische Angebote wahr, wenn sie ihre Bedürfnisse und Motive bedienen. Welche Zielgruppen möchten und können Sie mit Ihrem Produkt oder Serviceangebot ansprechen? Welche Gäste treffen Sie bereits heute in Ihrem Betrieb oder Ihrer Destination an? Wen möchten Sie künftig begeistern?
Wenn Sie die individuellen Stärken Ihres Angebots kennen und bspw. eine thematische Ausrichtung festgelegt haben, können
Sie die konkrete Gästegruppe bestimmen, für die das Angebot gestaltet werden soll. Gäste haben – je nach Lebenslage, Interessen, körperlicher und sinnesbezogener Einschränkung sowie individuellem Hintergrund – natürlich sehr unterschiedliche Bedürfnisse und Motive. Sie können es nicht allen recht machen. Überlegen Sie, welche Gästegruppe am besten zu Ihrem Angebot bzw. zu den Stärken der eingebundenen Akteure, insbesondere zur touristischen Kernleistung, passt.
Ein Hilfsmittel, um die barrierefreie Servicekette optimal nach den Kundenbedürfnissen auszurichten und die spätere Vermarktung adressatengerecht zu gestalten, ist die detaillierte Beschreibung in Form eines Zielgruppenprofils. Die sogenannten Personas sind „sprechende“ und mit Namen versehene „Stellvertreter“ Ihrer Zielgruppe(n). Die Personas beschreiben nicht alle Gäste, aber die wichtigsten. Jeder Dienstleister, jede Tourist-Information oder DMO kann eigene Personas aufsetzen, um barrierefreie Tourismusangebote zu planen, zu prüfen oder zu optimieren.
Tipp: Sich in eine Zielgruppe hineinversetzen
Beschreiben Sie Ihre Gäste in Form von Personas
Eine Persona steht stellvertretend und zusammenfassend für eine reale Gästegruppe und für deren ausgeprägte Eigenschaften
sowie deren konkretes Verhalten. Funktions- und damit Nutzungseinschränkungen sollen dabei von Anfang an mitbedacht werden. Personas können bei der Entwicklung von barrierefreien touristischen Produkten helfen, die Customer Journey, die Reise des Gastes, bedarfsgerecht auszugestalten!
Denn:
- Typische Bedürfnisse, Ansprüche und Problemlagen können veranschaulicht werden. Es macht emotional einen Unterschied, ob man sagt „Hans kann nicht in den Schlosspark, weil er blind ist“, oder ob man sagt „Blinde können nicht in den Schlosspark“. Das Problem wird greifbarer, weil man einen Namen und einen Menschen mit nachvollziehbaren Wünschen, Problemen und einer Biographie vor sich hat anstatt einer anonymen Gruppe. Man kann konkret fragen: „Würde Hans damit zurechtkommen?“.
- Die Anforderungen der potenziellen Gäste werden früh im Entwurfsprozess der Produktentwicklung erfasst und berücksichtigt. Das Angebot nachträglich „barrierefrei zu machen“ ist ggf. teurer und aufwändiger, als die Anforderungen von vorneherein mitzudenken und umzusetzen. Viele Probleme, die ggf. erst bei Nutzertests durch Menschen mit Einschränkungen erkennbar würden, können so schon vorab gelöst werden. Wichtig: Personas sind kein Ersatz für Tests mit echten Nutzern! Nähere Informationen hierzu finden Sie im Schritt Netzwerk Barrierefreier Tourismus. Dabei helfen Ihnen die im Schritt Zielgruppen beschriebenen Anforderungen Ihrer Gäste.
Zur Orientierung sollten Sie die Profile der wichtigsten Zielgruppen der Marke Brandenburg heranziehen sowie Informationen zu den Anforderungen der unterschiedlichen Anspruchsgruppen zur Barrierefreiheit (Mobilitätseinschränkung, Sinneseinschränkung etc.) nutzen. Eigene Beobachtungen und Befragungen bei den Gästen können ebenso dazu beitragen, das Angebot optimal und bedarfsgerecht zu gestalten.
Folgende empfehlenswerte Merkmalskategorien sollten Sie beschreiben:
- Allgemeine Angaben wie Name, Alter und Wohnort, persönliche Wertorientierungen und Einstellungen, Art der Einschränkung oder Behinderung etc.
- Reisemotive, Bedürfnisse und Wünsche (z. B. Natur- & Kulturliebhaber, Wellnessfan, Faszination für Neues, Zeit füreinander haben, Bildung und Erholung etc.)
- Verhalten bei der Inspiration und Information, Kernaktivitäten vor Ort, Nutzung von Social Media etc.
Schritt 3: Festlegung der Produktbestandteile und Prüfung der Qualität entlang der Servicekette
Sind die Basisinformationen für das zu entwickelnde Produkt geklärt („Basischeck“), geht es an die Prüfung der einzelnen Elemente der Servicekette rund um das Kernangebot („Detailcheck“). Hierbei ist es wieder hilfreich, sich in die Rolle des Gastes (z. B. der vorab skizzierten Persona) zu versetzen und entlang der verschiedenen Kontaktpunkte zu prüfen:
- Was erwartet der Gast, was sind seine Ansprüche?
- Wie ist das jeweilige Kundenerlebnis derzeit dahingehend gestaltet? Kann es die Bedürfnisse und Anforderungen erfüllen? Fehlt noch etwas, muss etwas optimiert werden?
- Wie sieht die Gästezufriedenheit derzeit aus (falls das Angebot schon existiert)?
Zur Beantwortung dieser Fragen kann das oben gezeigte Schema herangezogen werden. Die Elemente der Servicekette können dabei grundlegend variieren und nach Bedarf und für das jeweilige Gesamterlebnis noch differenzierter dargestellt werden. Es empfiehlt sich, die oben genannten Prüfpunkte zu verschriftlichen. Bei vernetzten Angeboten, z. B. in einer Tourismusregion, sollten auch Zuständigkeiten und die Verteilung etwaiger Aufgaben festgelegt werden.
Schritt 4: Musterablauf festlegen
Sind die technischen Voraussetzungen geklärt, Kern- und Komplementärleistungen festgelegt, sollten mögliche Abläufe aus Kundensicht beispielhaft skizziert werden. Wie kann der perfekte Ausflugstag aussehen, wie der ideale Familienkurzurlaub über mehrere Tage?
Beschreiben Sie aus Sicht Ihrer Persona die Reise des Gastes: von der Vorbereitung über die Anreise bis zum Ankommen; vom Erleben erster Highlights, der Phase des Durchatmens und Einkehrens bis zu den Begegnungen mit Menschen der Region; vom Souvenirkauf über die Abreise bis zum Weitersagen … Berücksichtigen Sie bei der musterhaften Darstellung die Dramaturgie und den Wechsel von aktiven und passiven Elementen. Und bei Ortswechseln prüfen Sie vorab: Sind die Wege nicht zu weit? Sind genug Pausen und Freiräume berücksichtigt? Versuchen Sie bei Ihrer Planung, einen roten Faden zu verfolgen. Können Besonderheiten der Region das Leitthema für das Produkt darstellen?
Der skizzierte Ablauf kann gleichzeitig die Vorlage für eine Leistungsbeschreibung sein, die später im Marketing als Tagesausflugs-, Tour- oder Reiseempfehlung kommuniziert werden kann. Auch hierbei ist die Zielgruppen- bzw. Persona-Orientierung bei der Formulierung zu beachten.
Schritt 5: Organisation, Vermarktung und weitere Schritte
Neben der Festlegung der Leistungen sind Preise und Verfügbarkeiten zu definieren. Anschließend sollten Sie sich Gedanken zur Vermarktungsstrategie machen, die ebenfalls auf die Zielgruppe(n) bzw. Persona(s) ausgerichtet sein sollte. Wo sind welche Informationen wichtig, welche Inhalte sollten auf welchen Kanälen ausgespielt werden etc.?
Zu beachten ist: Barrierefreiheit ist primär kein Reiseanlass. Gäste mit besonderen Bedürfnissen haben an ihr Urlaubsziel grundsätzlich die gleichen Erwartungen und Wünsche wie alle anderen Gäste auch. Sie wollen die Besonderheiten und Sehenswürdigkeiten der Region erleben und müssen ebenso wie alle Gäste motiviert werden, nach Brandenburg zu kommen.
Im Marketing wird es daher darauf ankommen, wenige – dafür aber hochattraktive – Produkte und Leistungsketten „ins Schaufenster zu stellen“ und den Gästen damit Lust auf einen Aufenthalt in Brandenburg zu machen. Es gilt also „Klasse statt Masse“ und das Herausstellen authentischer, geprüfter und funktionierender Reiseerlebnisse.
Zu klären ist abschließend, welche Schritte zur Umsetzung des Produkts noch nötig sind und in welcher Reihenfolge diese erledigt werden: Wer soll eingebunden werden und welche Aufgaben erledigen? Wann soll das Produkt in die Vermarktung gehen? Hilfreich ist es, zumindest vorübergehend einen Koordinator zu benennen. Noch besser ist jedoch ein Arbeitskreis mit Teilnehmern aus unterschiedlichen Branchen des Tourismus und behinderten Menschen, die als „Experten in eigener Sache“ aus eigener Anschauung beraten können.
3 extra Tipps für vollen Erfolg
- Führen Sie einen Probedurchlauf mit Testpersonen durch und prüfen Sie so die Zugänglichkeit aber auch die Abläufe Ihres neuen Produkts. Werten Sie Ihren Probedurchlauf anhand eines Fragebogens oder kurzen Interviews aus, dies liefert Ihnen wertvolle Hinweise, ob es noch einer weiteren Anpassung des Angebot bedarf.
- Produktentwicklung und Marketing sind eigentlich nie abgeschlossen. Zum einen sollte die Qualität ständig überprüft und ggf. verbessert werden. Zum anderen können sich Kundenbedürfnisse ändern und eine Anpassung erfordern. Auch Gästefeedback sollte gehört werden und in den ständigen Optimierungsprozess einfließen.
- Die Kernleistung gibt einer Reise oder dem Ausflug den Namen – es wird damit das kommuniziert, was der Gast kauft und was seine Hauptbeschäftigung auf der Reise oder beim Ausflug ist. Beispiele: Bootstour, Radausflug, Wandertour, Kulturveranstaltung, Museumsbesuch, Übernachtung in einem bestimmten Hotel, Wellnessaufenthalt, etc.
Lernvideo Produktentwicklung
Sehen sie eine kompakte Einführung ins Thema barrierefreie Produktentwicklung.
Beispiele Produktentwicklung in Brandenburg
Im Ruppiner Seenland gibt es eine Woche barrierefreien Urlaub rund ums Wasser, bei dem unterschiedlichste Partner aus dem Aktiv-, Kultur- und Wassersportbereich kooperieren. Auf einem moderierten Produktentwicklungsworkshop zum barrierefreien Tourismus wurden Ideen zur Verbesserung der Servicekette und ihrer einzelnen Angebote erarbeitet. Mit dabei waren Leistungsträger mit ihren Angeboten rund ums Wasser, „Experten in eigener Sache“, die bereits einen Hausbooturlaub mit ihrem Rollstuhl gemacht haben sowie Touristiker aus Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern. Ganz wichtig dabei war die Entwicklung von Personas, die von barrierefreien Angeboten ganz besonders profitieren. Derzeit werden mit der Bootsverleihfirma Kuhnle Tours spezielle Törns ausgearbeitet, bei denen es per barrierefreiem Hausboot durch die wasserreiche Region geht.
TMB Tourismus-Marketing Brandenburg GmbH
Y. Maecke
Im Lausitzer Seenland ist bereits eine Arbeitsgruppe zum barrierefreien Tourismus aktiv. Auf einem moderierten Produktentwicklungsworkshop wurde gemeinsam überlegt, wie man die Bergbaufolgelandschaft auch für blinde Menschen erlebbar machen kann. Dazu wurde die Arbeitsgruppe um zusätzliche touristische Anbieter erweitert, die schon jetzt Angebote für blinde Menschen haben. Im Gespräch mit den blinden Teilnehmern des Workshops wurden die Schwierigkeiten der eigenständigen Orientierung vor Ort herausgearbeitet. Die Teilnehmer des Blinden- und Sehbehinderten Verband Brandenburg e. V., Bezirksgruppe Senftenberg werden die Produktentwicklung u.a. mit detaillierten schriftlichen Anleitungen zur Orientierung am Stadthafen Senftenberg und anderen touristischen Attraktionen unterstützen und Leistungsträger bei der Verbesserung ihrer Angebote beraten. Weitere Workshops sollen folgen, denn der gesamte Produktentwicklungszyklus lässt sich nicht an einem einzigen Tag durchlaufen.
Lausitzer Seenland
Barrierefreie Seerundtouren für Handbiker
Gut befahrbare, asphaltierten Wege rund um die Seen im Lausitzer Seenland, bieten sportlich aktiven Gästen viele Möglichkeiten. Die Touren wurden von Handbikern geprüft und führen entlang zahlreicher Sehenswürdigkeiten. Die Routen lassen sich als PDF und GPX-Track von der Webseite des regionalen Tourismusverbandes herunterladen.
Lausitzer Seenland